Gedanken zur Flut in Südasien

Chance auf einen Neuanfang

Pfarrer Winfried Anslinger am 9. Januar 2005

Matthäus 4, 12 – 17

Es war am 1. November 1755, kurz vor zehn Uhr. Da erschütterte ein gewaltiges Erdbeben die Stadt Lissabon. Nach heutigen Schätzungen hatte das Beben eine Stärke von 9,0. Es dauerte sieben Minuten. Das Epizentrum lag im Atlantik, mehrere hundert Kilometer von der portugiesischen Hauptstadt entfernt.

Die meisten der streng katholischen Bewohner feierten zu dieser Stunde in ihren Kirchen und Kathedralen das Allerheiligenfest. Einem Augenzeugen zufolge bogen sich die Türme der Stadt "wie ein Getreidefeld im Winde". Gebäude stürzten ein wie Kartenhäuser, Feuer brachen aus. Sie brannten fünf Tage lang. Es gab zwei Nachbeben, noch stärker als das erste. Die Kraft der Erdstöße war so stark, dass in Luxemburg eine Kaserne einstürzte und 500 Soldaten unter sich begrub - 1700 Kilometer von Lissabon entfernt.

Als die Erde sich wieder beruhigt hatte, zog sich das Wasser weit zurück. Viele Einwohner waren aus der Stadt ans Ufer des Flusses Tejo geflohen, der bei Lissabon in den Atlantik mündet. Auf dem damals neu gebauten Kai aus Marmor fühlten sie sich sicher - ein fataler Irrtum. 45 Minuten nach dem Beben brachen Flutwellen über die Stadt herein, spülten als erstes die Überlebenden von der Ufermauer durch die Trümmer und danach ins Meer. Bis zu 15 Meter hoch sollen sie gewesen sein. Die Unterstadt wurde völlig überschwemmt. Es kamen noch zwei weitere Wellen. Als das Meer sich beruhigt hatte, waren 60 000 Einwohner tot.

Die Katastrophe traf nicht nur Lissabon. Sie wütete an der portugiesischen und der spanischen Küste, eine zehn Meter hohe Welle überflutete den spanischen Hafen Cadiz. Vier Stunden nach dem Erdbeben erreichten die Tsunamis die Küsten Frankreichs, Englands, Irlands und Hollands. Noch im Hafen von Kinsale an der Südküste Irlands wurden zwei vertäute Schiffe losgerissen. Auswirkungen wurden bis nach Marokko, Algerien, den Azoren, auf Madeira und den Kleinen Antillen auf der anderen Seite des Atlantik registriert.

Niemals wurde berechnet, wie viele Opfer das Ereignis insgesamt kostete, amtliche Zählungen gab es nicht, es waren vermutlich mehr noch als am 2. Weihnachtstag letzten Jahres.

Der französische Philosoph Voltaire soll angesichts des Schreckens seinen Glauben verloren haben. Merklich erschüttert verfasste er in Genf ein religionskritisches Gedicht über die Katastrophe (Poème sur le désastre de Lisbonne). Darin schrieb er:

"Du ewiges Geschehen nutzloser Katastrophen! Ihr ruft: 'Alles ist gut!' Getäuschte Philosophen, kommt her und schaut euch an: entsetzliche Ruinen, die Scherben und der Schutt, von Asche die Lawinen, und Schicht auf Schicht gehäuft die Kinder und die Frauen, zerstreuter Gliederstaub, vom Marmorstein zerhauen."

Nach der Katastrophe entzündete sich eine heftige Diskussion um das Warum. Wie konnte Gott das zulassen, fragten sich die verzweifelten Überlebenden. Ist Gott denn nicht der gnädige Vater im Himmel, der die Menschen, vor allem die gläubigen Menschen liebt? Damals herrschte eine optimistische Stimmung im europäischen Geistesleben. Die Aufklärung hatte ihren Siegeszug vollendet, man war davon überzeugt, dass die Welt von Gott gut und zweckmäßig geschaffen sei. Von England her kam die Lehrmeinung, Gott habe alles so perfekt eingerichtet, dass er gar nicht mehr ins Geschehen eingreifen müsse. Die Welt laufe wie ein perfektes Uhrwerk. Vernunft und Offenbarung ergänzen sich. Sünde und Leid können durch Erziehung und Moral nach und nach vermindert werden. Beides sei von Gott überhaupt nur zugelassen, um das Menschengeschlechts zu Besserem zu erziehen. Der Philosoph Leibnitz hatte gar unsere Welt als die beste aller möglichen bezeichnet.

Und dann passierte diese Naturkatastrophe, die eine der fortschrittlichsten Städte damals vernichtete, Gute und Böse, Gläubige und Ungläubige gleichermaßen dem Verderben preisgab. Was ist das für ein Gott, der solches zulässt?

Die katholische Kirche interpretierte das Geschehen als Strafe Gottes für Lasterhaftigkeit. Hatte man doch Jahrhunderte lang vergeblich gegen Prostitution, Glücksspiel und zuletzt auch noch den Protestantismus gekämpft. Jetzt habe Gott ein Machtwort gesprochen. Andersherum versuchten Protestanten das Ereignis als Strafe Gottes für die katholischen Verbrechen während der Religionskriege zu deuten. Fast alle Toten waren Katholiken, Gott hatte das Unglück gelenkt. Er wird gewusst haben warum.

Keine dieser schlichten Interpretationen überzeugte. Den Komponisten Georg Philipp Telemann inspirierte das Beben zu einem Oratorium. Der Titel: "Tag des Gerichts". Doch welches Gericht und wofür? Das Weltende konnte nicht gemeint sein. Und Sünder hat es auch in Russland und erst recht bei den mohammedanischen Heiden gegeben. Tiefe Ratlosigkeit herrschte.

Angesichts der heutigen Bilder drängen sich Parallelen auf. Fluten wie diese sind zwar selten, doch nicht einmalig. Immer wieder zeigt die Natur sich von ihrer unbeherrschbaren Seite. Dem Menschen, der geglaubt hat, sein Schicksal und alles Widrige in der Hand zu haben, wird bei solchen Ereignissen gezeigt, wo die Grenzen sind. Auch unser heutiger Zweckoptimismus, dem alle Probleme lösbar scheinen mit Vernunft und Technik, erfährt einen Dämpfer. Im Prinzip wäre die Katastrophe vermeidbar gewesen, sagen die Optimisten. Sie vergessen, dass Unglück sich meistens von hinten durch den Keller anschleicht und zuschlägt, wenn wir nicht mit ihm rechnen, also auch kein Mittel zur Hand haben.

Seit Jahren wurde vor Tsunamis gewarnt. Es gibt viele Risikogebiete in der Welt. In wissenschaftlichen Zeitschriften tauchte das Thema regelmäßig auf. Frühwarnsysteme hatten aber keine Priorität, weil es hieß, nur alle 300 Jahre geschähe das im Indischen Ozean. Da sei noch Zeit. Auch die Warnungen vor Bauten unmittelbar an der Wasserlinie verhallten ungehört. Jetzt mussten trotz Erdbebenwarnung, Telefon, Radio und allen technischen Möglichkeiten, die zur Verfügung standen, Unzählige sterben. Arme und Wohlhabende, Gute und Böse - wie damals in Lissabon. Die genaue Zahl wird auch diesmal nicht ermittelt werden können.

Auch wenn jetzt die Frage nach der Schuld gestellt wird und mancher seinen Posten verliert, bleibt die Wahrheit unumstößlich, dass solche Katastrophen immer wieder geschehen können und geschehen werden. Kein noch so perfektes System wird alle Risiken ausschließen können. Wir bleiben unserem Schicksal ausgeliefert.

Das führt erneut zur Frage, wie Gott das zulassen kann. Eines kann nicht stimmen: Entweder ist Gott nicht allmächtig, sodass er die Flut nicht verhindern konnte, oder Gott meint es nicht gut, sodass er die Flut absichtlich geschickt hat, um Gute und Böse miteinander auszulöschen.

Keine dieser möglichen Antworten ist mit unserem herkömmlichen Gottesbild vereinbar. Gott zeigt sich von seiner rätselhaften Seite. Nicht unsere Wünsche nach einem guten, sicheren, möglichst auch bequemen Leben zählen. Gottes Gedanken und Absichten sind höher als unsere, so hoch wie der Himmel über der Erde ist, sind Gottes Gedanken höher als unsere, heißt es in einem Psalm. Unglücke dieser Art stellen unsere religiösen Erwartungen an einen „lieben Gott“ in Frage, drängen uns ein anderes Gottesbild auf. Ein Bild, das ihn plötzlich neben uns erscheinen lässt: in einer helfenden Hand, in der Geste eines Mitmenschen, der Unglückliche in die Arme schließt, in Gestalt günstiger Fügungen, die Vermisste wieder auftauchen lassen. Haben nicht die deutschen Überlebenden in Thailand unglaubliche Hilfsbereitschaft erfahren? Wir werden darauf gestoßen, dass Gott nicht aufgeht in unseren menschlichen Vorstellungen von Schöpfer, Himmelsherrscher, Schicksalslenker. Du sollst dir kein Bildnis machen von Gott, sagt das 2. Gebot. Gott ist überall, im Glück wie im Unglück. Im Himmel und auf Erden. Er ist überall ansprechbar. Ihm sollte gerade im Unglück vertraut werden. Wir Christen kennen das Beispiel Jesu. Hat in der Stunde der Kreuzigung jemand verstanden, wozu das gut war? Auch wir bekommen meist nicht heraus, ob ein erlittenes Geschehen vielleicht einem höheren, besseren Zweck gedient haben mag. Es wird Gott nicht beleidigen, wenn wir ihm die Schuld an allem geben. Er wird wissen wozu. Er würde vielleicht einen Vergleich heranziehen: Stellen wir doch die Zahl der Flutopfer einmal neben die Zahl der Kriegsopfer im Jahr 2004. Allein die derzeit schwelenden Konflikte in Darfur und im Ostkongo forderten mehr als eine halbe Million Tote. Gut die dreifache Zahl an Opfern. Niemand war davon so betroffen. Weil keine Deutschen darunter waren? Weil man die Länder nicht kennt?

Jedenfalls scheint das Zufügen von Leid die einzige Disziplin zu sein, in welcher der Mensch Gott manchmal überlegen ist.

Gottseidank gibt es eine andere Seite. Die Welle von Hilfsbereitschaft, die in den letzten Tagen weltweit entstand, lässt hoffen. Auch unsere Kirchen sind beteiligt. Ein Wiederaufbau wird möglich. Fehler der Vergangenheit können korrigiert werden, die Völker kommen einander näher, vielleicht verlieren Konflikte in Ceylon und Indonesien ihre Schärfe. Es wird ein Frühwarnsystem eingerichtet.

"Das Volk, das im Finsteren saß, hat ein großes Licht gesehen", sagte Jesus zu den Leuten von Kapernaum in unserem biblischen Bericht. "Die da saßen am Ort und Schatten des Todes, denen ist ein Licht aufgegangen". Er bezog diese Prophetenworte auf seine Zuhörer, denen er Erleuchtung wünscht. Wozu soll diesen die Erleuchtung dienen? Er fährt fort: "Kehrt um, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekomme"“.

Diese Chance, umzukehren und einen Neuanfang zu machen, wünschen wir allen Betroffenen der Flut. Auch das größte Unglück ist kein Grund zur Resignation. Denen im Finstern leuchtet das Licht der Hoffnung. Und es leuchtet um so heller, wenn es Menschen gibt, die dieses Licht entfachen helfen. Mitleid und Aufmerksamkeit sind die Tugenden, auf die es heute für uns ankommt. Die wir nicht direkt betroffen sind und doch betroffen waren angesichts der Bilder.

Mancher hat am 26. Dezember, als die ersten Nachrichten kamen, vielleicht gedacht: Das jetzt gerade noch an Weihnachten. Nun muss die Weihnachtsbotschaft sich gerade an diesem Unglück bewähren und die christliche Gemeinschaft mit ihr: Dass Licht leuchtet denen, die im Schatten des Todes sitzen und nicht weiter wissen, deren Leben zusammengebrochen ist, als Haus und Familie weggerissen wurden. Denen, die im Urlaubsparadies alles verloren haben, die Trost brauchen, der nicht von dieser Welt ist. Denen, die Zeugen all dieser Dramen wurden.

Sie alle sollen wieder Zutrauen fassen ins Leben. Lassen wir unser Licht ihnen leuchten.

 

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