Gedanken zu Religion und Gewalt

Regiert Gott die Welt weise?

Was sollen wir hierzu sagen? Ist Gott denn ungerecht? Das sei ferne! Denn er sprach zu Mose: "Welchem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich." So liegt es nun nicht an jemandes wollen oder laufen, sondern an Gottes Erbarmen. Denn die Schrift sagt zum Pharao (als er mit seiner Streitmacht im Schilfmeer ertrank): "Eben darum habe ich dich erweckt, dass ich an dir meine Macht erzeige, damit mein Name verkündet werde in allen Landen". Nun sagst Du zu mir: Was beschuldigt er uns dann noch? Wer kann denn Gottes Ratschluss widerstehen? Ja, lieber Mensch, wer bist Du denn, dass Du mit Gott rechten willst? Spricht ein Werk zu seinem Meister warum machst Du mich so? Hat nicht ein Töpfer Macht, aus einem Klumpen Lehm anzufertigen ein Gefäß zu Ehren und das andere zur Unehre? Weil Gott wollte kundtun seine Macht, hat er mit großer Geduld getragen die Gefäße des Zorns, auf dass er kundtäte den Reichtum seiner Herrlichkeit an den Gefäßen der Barmherzigkeit.

(Brief des Paulus an die Römer 9, 14 ff)

Pfarrer Winfried Anslinger am 27. Januar 2002


Eine belebte Ecke in der Innenstadt von Tel Aviv. Autos hupen, auf den Trottoirs strömen die Fußgänger. Direkt am Zebrastreifen ein Schnellrestaurant. Vor dem Imbissschalter stehen sie Schlange. Plötzlich ein furchtbares Krachen. Es peitscht die Trommelfelle, der Atem stockt, Gegenstände fliegen durch die Luft. Nach einer Schrecksekunde fangen Menschen an zu schreien. Wieder ein Attentat. Überall Blut, Verletzte, Tote. Eine Frau ruft: "Mein Gott, mein Gott" und beugt sich über ein Opfer. In solchen Augenblicken bleibt keine andere Instanz. Es wird nicht lange dauern, dann wird sie schwanken zwischen Gott und den Palästinensern. Wer ist schuld? Wer hat den Mann, das Kind, die Freundin umgebracht?

Wieviel kann Gott dafür, wo der Bürgerkrieg in Palästina gerade um die Religion geführt wird? Warum gibt es nicht eine Religion, die alle gleichermaßen glauben können? Wer ist daran schuld? Und wäre es nicht zu ändern?

Jeder hegt irgendwo den Wunsch nach einer einfachen, transparenten Weltordnung, wo gut und böse, richtig und falsch, der eine und der andere Glaube, so offen daliegen, wie Möhren und Blumenkohl auf dem Markt.

Doch die Wahrheiten sind vermischt. Nichts ist eindeutig. Das Gute scheint immer mit Bösem kontaminiert zu sein. Und die Bösen zeigen bei näherem Hinsehen auch andere Seiten.

Der Selbstmordattentäter dachte bei seiner Tat vielleicht an den Artillerieangriff auf sein Dorf, wo drei Cousinen und eine Schwester umkamen. Er wollte Gerechtigkeit und sein Glaube gebot ihm, die Ungläubigen zu bekämpfen. Der Imam hatte allen Märtyrern das Paradies versprochen. Wenige Stunden später stiegen israelische Kampfflugzeuge auf und bombardierten wieder Palästinenserlager. Der Staat Israel, der nach Gottes Willen wiedererstanden ist, darf sich von Attentaten nicht in die Knie zwingen lassen. Kampf dem Terrorismus. Man hört das ja überall. So hat jeder seinen Grund. Seine Rechtfertigung, seinen Rückhalt in der Binnenmoral der eigenen Gruppe.

Wie gut, wenn wenigstens Gott für all das verantwortlich wäre und man sagen könnte: die Anweisung dafür kam vom Himmel. Doch der Himmel sagt nichts.
Die selbst gezimmerten Begründungen und Orientierungsmarken führen offensichtlich zu immer neuem Unrecht und die Verantwortung dafür bleibt auf Erden. Und weil da keiner allwissend, keiner allmächtig, und keiner allweise ist, nimmt das Unglück seinen Lauf. Sogar im Namen der Religion. An keinem anderen Beispiel wird so deutlich, wie ohnmächtig der Mensch gegenüber seinen Gefühlen und Schwächen ist und wie wenig Verstand ausrichtet. Im Namen der höchsten Werte zanken sich die Menschen am erbittertsten. Anstatt in Ehrfurcht vor dem Höchsten wenigstens die Waffen niederzulegen, meinen sie ihre jeweilige Gottheit verteidigen zu müssen und machen Gott zum Erfüllungsgehilfen ihrer Leidenschaften.

Was kann Gott hier noch ausrichten?

"Ist Gott ungerecht? Das sei ferne", schreibt der Apostel. Denn Gott sprach zu Mose: "Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig".

Eine vertrackte Sache mit einem Gott, der sich nicht erklärt, sondern von den Ergebnissen her argumentiert. Wer recht hatte, das erfahrt Ihr hinterher. Dem habe ich meine Gnade geschenkt und fragt ja nicht warum.

Die positive Seite dieser schroffen Absage an menschliches Räsonnieren gibt uns die Chance zu sagen: Wenn wir schon nicht genau wissen, wie Gottes Ratschluss ausfällt, sollten wir bedächtig vorgehen. Nichts überstürzen und von der Meinung Abstand nehmen, wir entschieden die Dinge aus eigener Einsicht, Kraft und Vollkommenheit:

"So liegt es nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen", fährt der Apostel folgerichtig fort. Martin Luther hat diesem Satz große Bedeutung zugemessen. Gegen die altkirchliche Ansicht, durch Eifern komme man ins Himmelreich. Er hatte der Möncherei abgeschworen, weil er zu der Überzeugung gekommen war: der Mensch kann Gott nicht gerecht werden. Er ist und bleibt ein Geschöpf, das am Seidenfaden hängt wie die Marionette.
Gott nimmt sich die Freiheit, aus demselben Klumpen Ton entweder einen königlichen Weinpokal oder ein Nachtgeschirr zu machen "auf dasser kundtäte den Reichtum seiner Herrlichkeit", meint Paulus. Schon Israel hatte erfahren, dassGott der Geschichte immer wieder unerwartete Wendungen gab. Nicht das Wahrscheinliche passierte, sondern es trat ein, woran keiner gedacht hatte: Der Pharao ertrinkt mit seiner Streitmacht im Meer, Saul, der jüngste der Brüder, der unbeachtet beim Tross geblieben war, wird zum König von Israel gewählt. David besiegt Goliath. Gideon besiegt mit ein paar Dutzend Männern das große Heer der Midianiter. Der Weltmacht Assur gelingt es nicht, Jerusalem zu erobern, weil Gott die Pest ins Heerlager schickt. Und schließlich hat nicht der Römerkaiser Augustus der Weltgeschichte seinen Stempel aufgedrückt, sondern ein Säugling, der unbeachtet in einem palästinischen Stall zur Welt kam. "Könige stürzt er vom Thron und den Niedrigen erhebt er aus dem Staub", lautet das inbrünstigste Bekenntnis des alten Testaments.

Israels Geschichte mit ihren Katastrophen und Abfolgen von menschlichem Versagen ist für die Bibel zum Modellfall für Gottes Handeln in der Welt geworden.
"Gott lenkt alle Dinge nach seinem heiligen und weisen Willen", haben wir früher im Katechismus gelernt, "so dass nichts von ungefähr geschieht, sondern alles aus seiner Vaterhand uns zukommt". Frage 11.

Doch Gottes Vaterhand als Bild für eine heile Welt? Wirkt diese Vaterhand nicht am deutlichsten, wo es nicht nach unseren Vorstellungen geht? Wo wir Böses erfahren? In der Bibel hat das Kreuz die Naturtheologie fast verdrängt.

"Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig". Dieser harte Satz, dieser Satz voller Willkür reizt zum Widerspruch und reißt die Frage wieder auf: Was ist das für ein Gott, der seine Macht gerade da erweist, wo es schlimm zugeht? Kriege, die Menschen verursachen, sind nicht das einzige Unglück auf Erden. Naturkatastrophen , Krankheiten, Unfälle tragen auch ihr Teil zum Leid bei, den Hauptteil. Also: Kein Pardon für einen Gott, der uns grundlos straft, dessen Angelegenheiten durchaus nicht nach weisem und heiligem Willen gelenkt erscheinen, sondern durch blinden Zufall. Was ist das für ein Gott? Und was will er von uns?

Wir stellten fest:

Nicht alles was gut aussieht, ist es auch.

Es gilt allerdings ebenso das Gegenteil:

Nicht alles was ungereimt erscheint, ist falsch und ungerecht.

Jemand muss sein Geschäft aufgeben. Es geht schon länger schlecht. Er hat einen Teil der Halle an einen Teppich- und Antiquitätenhändler vermarktet. Der zahlt seit Monaten keine Miete mehr. Was tun? Rauswerfen und neu vermieten? Das ist leichter gesagt als getan. Die Räumungsklage zieht sich hin. Das hat er nicht gedacht. Die eigenen Geschäfte gehen auch immer schlechter. Irgendwann, an einem Märzabend, muss er sich eingestehen: Es ist aus. Er hat zu lange gewartet. Der Zahlungstermin der Bank läuft am nächsten Morgen aus und die sind nicht so geduldig wie er. Selber schuld. So ist es im Geschäftsleben. Wegen so einem Teppichhändler. Jetzt braucht er den Laden nicht mal mehr ausräumen. Das machen die Gläubiger. Ihm gehört nichts mehr. Das Haus ist auch weg. Umsonst haben er und seine Frau die ganzen Jahre gearbeitet. Oft 12 Stunden am Stück. Samstags. Beide werden sie Jobs annehmen müssen. Am Fließband, in der Wäscherei. Wenn sie was bekommen. Die Tochter macht Abitur.

Ein Jahr später rufen sie ihm in der Mittagspause zu: "He, hast schon gelesen? Diese Halle in der Münchner Straße. Da hast Du doch mal nen Laden gehabt".

"Was ist damit?"

"Da lies mal."

In der Kantine gibt's die Zeitung. Sie legen den Lokalteil vor ihn hin. Da sieht er das Bild. Ein Laster hat die Kurve verfehlt und ist in seine Halle geknallt. Zwei Tote. Der Platz, auf dem er sein Büro hatte, ist völlig verwüstet. Da hätte er normalerweise gesessen. Wenn er sein Geschäft noch hätte.

Das Ungereimte reimt sich manchmal auf Zufall oder Fügung.

Allzu harmonisch hat unser Katechismus das Bild von der göttlichen Weltregierung gemalt. Verkehrt muss es deswegen nicht sein.

Wie uns eine Sache erscheint, hängt auch vom Standpunkt ab. Der Nachfolger im Geschäft des Mannes hat bessere Geschäfte gemacht und hat sie mit dem Leben bezahlt. Eine Geschichte ist nie zuende, wenn wir damit zuende sind.

Unser Blickwinkel ist eng, unsere Bewertung relativ. Gut erscheint uns vornehmlich, was dem eigenen Leben dient: Gesundheit, soziale Sicherheit, langes Leben, harmonische Familie, beruflicher Erfolg.

Ist das für alle gut? Die harmonische Familie kann dem alleinlebenden Nachbarn umso mehr zu Bewusstsein bringen, wie einsam er ist. Deshalb beschwert er sich ständig über den Kinderlärm. Und holt freitagabends die Polizei. Der chronisch Kranke im Heim beneidet die Gesunden und will deswegen keinen Besuch. Weihnachten ist aus Sicht der Gänse kein ganz so erfreuliches Fest.

Kann denn eine Weltregierung es allen gleichzeitig recht machen?

An unseren Beschwerden wird deutlich, wie beschränkt unsere Sicht ist. Wie subjektiv auch hier. Dass wir mehr Talent im Nehmen haben als im Geben. Und dass es so sein muss. Weil das Nehmen einmal überlebenswichtig war. Es sitzt tief in uns drin und wir geben es weiter an die Kinder und Kindeskinder. Es ist ein Prinzip der Entwicklung des Lebens. Unsere Beschwerden ans Himmelreich sind Folge der vorgegebenen Strategie und müssen von der vorausschauenden Schöpferweisheit berücksichtigt sein. Vielleicht ist es so, dass Leid und Klage einen notwendigen Teil des Gesamtplanes darstellen. Wobei Leid die Abwehrkräfte mobilisiert und Klage das verzweifelte Ich entlastet. Die Entwicklungsströme sind in zahllose "Ichträger" aufgeteilt, die unabhängig voneinander operieren. Die Art tritt in Form zahlloser Individuen auf. Ihre Vielheit ermöglicht, den Zufall durch das Prinzip der statistischen Wahrscheinlichkeit zu eliminieren. Der Einzelne leidet, die Art triumphiert. So ging das viele Millionen Jahre lang. Bis die Vielfalt der heutigen Schöpfung entwickelt war. Durch den Menschen kam etwas Neues: Indem die belebte Materie ihrer selbst bewusst wird, ist Gott nun ein dialogfähiges Gegenüber herangewachsen, mit dem es vielleicht Freude macht, sich zu beschäftigen. Die Freude Gottes an seiner Schöpfung nimmt zu. Er hat weniger Lust, sie zu verwerfen und wieder neu anzufangen. Weil sie vielleicht dabei ist, zu gelingen.

Diesmal.

Vielleicht.

Das sind gewiss nur Vermutungen, aus beschränkter Sicht vorgetragen.

Die Vermutung hat etwas für sich. "Auch die Leiden kommen von Gottes Vaterhand", heißt es im Kommentar zu Katechismusfrage 11. "Bald als Züchtigung, bald als Prüfung, und dienen dem, der Gott liebt, zum besten. Sie machen demütig vor Gott, bringen, Geduld, Erfahrung und Hoffnung".

So ist am Ende alles nach weisem Plan geordnet. Und wir erhalten Anleitung, uns sinnvoll zu verhalten. Gewiss, der Schöpfer liebt es, gelegentlich verschwenderisch zu sein. Wir werden dann halt auch mal verschwendet. Wie die vielen Haselnussblüten im Frühling, die nicht bestäubt werden.

"Was sollen wir hierzu sagen? Ist Gott ungerecht?"

Ja, natürlich ist er ungerecht. Hier ist Paulus zu widersprechen. Aber ungerecht aus unserer Sicht. Die Geschöpfe können den Plan des Schöpfers nicht erkennen. Hier liegt das Problem. Wir lösen es nicht, indem wir von der gütigen Vaterhand sprechen und alles pädagogisieren, harmonisieren. Es ist und bleibt ein Problem.

Das in keiner Religion und mit keiner denkerischen Anstrengung bisher gelöst worden ist.

Wir haben nur Rezepte, wie man im Leben damit umgehen kann. Befragen wir noch einmal den Katechismus. Frage 13 lautet: "Wozu soll dich der Glaube an die alles regierende Vaterliebe Gottes erwecken?"

Antwort: "Ich soll im Glücke dankbar, in Widerwärtigkeiten geduldig und ergeben, meinen Beleidigern gegenüber versöhnlich und getrost sein."

Gar nicht unweise, dieser Ratschlag. Wir stellen die Antwort auf unlösbare Fragen zurück, nicht ohne Hoffnung, aber konzentrieren uns aufs Lebenspraktische. Man sollte diesen Katechismusrat häufiger befolgen. In Palästina und überall.

 

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