Gedanken zum Terroranschlag aufs World Trade Center, New York, am 11. September 2001

Zwischenruf

Pfarrer Winfried Anslinger am 16. September 2001

 

Bilder, die uns schockierten: Ein riesige Rauchwolke über Manhattan, ein brennender Hochhausturm, aus Fensterreihen dringt weißer Rauch. Entsetzte Stimmen im Hintergrund, selbst abgebrühte Berichterstatter verlieren die Fassung. Ganz oben ein Mann mit einem Tuch am Fenster, er will keinem winken, andere vor ihm sind 400 Meter tief hinabgesprungen. Ein Flugzeug nähert sich dem Nachbarturm, es ist kein Hollywoodfilm, es dreht eine steile Kurve und kracht in die Fassade hinein, Flammen schlagen durch die Stockwerke und auf der Gegenseite heraus. Ein Flugzeug voller Menschen, ein Gebäude mit zigtausend Menschen drin, die Wirklichkeit überholt jede Phantasie.

Man hat auf die Bildschirme gestarrt, man hat alles um sich herum vergessen. Arbeit, Termine, Familie, Besorgungen, viele fühlten sich wie in Trance. Es gibt Bilder, die gehen einfach nicht mehr weg. Die bleiben in die Netzhaut eingebrannt und springen einen später wieder an.

"Live dabei", lautet ein Ideal unserer vernetzten, medial omnipräsenten Lebenswelt. Es wird genauso zum Fluch. Man kann sich dem Weltauge nicht entziehen, fragt sich im Nachhinein, warum hast du dir das auch noch angesehen, weißt doch, wie Tote ausschauen, weißt doch, was das bedeutet für die Angehörigen, Freunde der Opfer, die Bilder belegen uns mit ihrem Zauberbann und alles bleibt in Hypnose. Doch finden nicht jedes Jahr solche Katastrophen statt? Bürgerkrieg in Angola, Schlächterei auf indonesischen Inseln, der Untergang einer Fähre mit 1200 Passagieren. Da bleibt die Betroffenheit gering. Man war nicht live dabei. Es fand im Busch statt oder in den reißenden Fluten des Ganges zur Monsunzeit. Das Schreckliche passiert überall und ist nicht einmalig, doch es ist uns meist nicht vor Augen. Bilder nehmen uns ein für sich.

Wörter wie Apokalypse, Krieg, Wahnsinn rauschten vorbei. Wörter stellen Sachverhalte fest und interpretieren. Deuten Bilder und ordnen zu. Schlagzeilen aus Saarbrücker Zeitung und Frankfurter Rundschau:

"Angst und lähmendes Entsetzen"
"Fassungslosigkeit auch im Saarland" am 12. September
"Bush nennt Terrorangriffe Kriegshandlung"
"Natoschlag gegen Terroristen ?" am 13.9.
"Bush erklärt Terroristen den Krieg"
"Nato erklärt Bündnisfall" am 14.9.
"Vergeltungsschlag: USA machen Ernst"
"Bin Ladin: Schlinge zieht sich zu" am 15.9.

Ja, man will ihn hängen sehen, den Gottseibeiuns, die Sprache verrät's. Man kann's verstehen, doch bis heute weiß keiner, ob er 's wirklich war.

Wörter können auf falsche Fährten bringen. Können mitreißen, können Erdrutsche auslösen. Ein Krieg der Nato mit hunderttausenden von Soldaten gegen ein Paar Händevoll Verrückter, Verblendeter, die man bisher nirgendwo greifen kann? Das Wort Krieg bezeichnet aggressive Akte von Staaten gegeneinander. Hier kann es eigentlich nur um das Auffinden von Schuldigen gehen und auch derer, die sie decken. Es ist kein Krieg, schon gar nicht zwischen islamischer und christlicher Welt. Wenn es dazu käme, hätten die Menschenverächter ihr Ziel erreicht.

95 % aller Moslems sind keine Islamisten. Sie wollen friedlich mit uns leben. Sie können nichts dafür, dass ihr Prophet zur Ehre Gottes hat Länder erobern lassen. Dass Jesus für unsere Sünden am Kreuz starb, ist nicht unser Verdienst. Man muss vorsichtig sein mit Wörtern, darf sie nicht mit Waffen verwechseln. Worte sollten dazu dienen, Klarheit zu schaffen und uns die Welt erschließen. Wenn Wörter zu Nebelkerzen werden, verirrt man sich. Wenn Politiker von einer "Kriegserklärung an die zivilisierte Welt" sprechen und jeder weiß, die Täter kommen aus einer anderen Kulturkreis - ist dieser Kulturkreis dann Teil einer unzivilisierten Welt? Sind wir Europäer jetzt wieder unter uns? Manchem mag das behagen.

Wenn ein Terrorangriff gegen das Bankenviertel New Yorks zu einem Angriff auf die Zivilisation wird: Ist unsere Zivilisation dann identisch mit dem amerikanischen Kapitalismus ? Die Islamisten sind dieser Meinung. Von uns wird das den Wenigsten behagen.

Bilder, verbunden mit Wörtern setzen manchmal magische Kräfte frei. Sie können die Welt innerhalb von Tagen verändern. Der Mordanschlag in Sarajewo 1914 war so ein Fall. Die Torpedierung eines amerikanischen Passagierdampfers durch englische Geheimagenten 1917 auch. Gottseidank droht heute kein Weltkrieg. Aber dass eine Mehrheit der Deutschen sich für bewaffnete Einsätze ausspricht, stimmt bedenklich. Bedenklicher noch stimmt, dass die Amerikaner ein objektives Interesse haben müssen, Bin Laden ohne Prozess, im Rahmen einer Militäraktion zu beseitigen. Denn wie viele Menschenleben wären gefährdet, während der Zeit eines Prozesses gegen ihn? Wie viele Narren würden sich opfern, um ihn zu befreien? Spricht man deshalb in Washington so konsequent von Krieg, um rechtsstaatliche Verfahren zu umgehen ? Verstehen könnte man's. So weit bringt uns der Terrorismus.

In Zeiten wie den jetzigen ist nichts wichtiger, als einen klaren Blick zu behalten und Nüchternheit. So schwer es uns fällt. Unsere Gefühle sind bei den Opfern. Bei ihren Angehörigen. Wir empfinden mit ihnen, weil es uns genauso ginge. Können wir helfen? Nein. Trauer kann man niemandem abnehmen. Trotzdem weinten Menschen in großer Zahl, als am Freitag Gedenkminuten abgehalten wurden. Aus Betroffenheit, weil Bilder tief verletzen können. Wir machen uns das nicht klar, wenn wir Kinder RTL und Sat 1 sehen lassen. Ein amerikanischer Journalist sprach von dem deutschen Hang zur Depression. Das ist wahrscheinlich übertrieben. Das amerikanische Volk trauert und das deutsche Volk trauert mit ihm. Diese Geste verbindet und erinnert zugleich daran, dass wir ohnehin verbunden sind. Historisch, verwandtschaftlich wirtschaftlich und ja auch machtpolitisch. Wir haben viel gemeinsam. Im Guten wie im Bösen.

Wir spüren, wie verwundbar unsere Systeme sind. Es könnte morgen in Deutschland ähnliches geschehen. Mit Giftgas auf Bahnhöfen, mit sprengstoffbeladenen Lastern in Einkaufsmeilen, mit einer Boeing auf ein Atomkraftwerk. Deshalb ist das Problem des Terrorismus ein gemeinsames.

Wenn sich die Welt am letzten Dienstag verändert hat, dann so, dass die westlichen Gesellschaften wieder einmal etwas von ihrer technikgläubigen Selbstsicherheit eingebüßt haben. Es gelingt nicht, sich selbstsüchtig vom Rest der Menschheit abzukapseln in upperclass Wohnsiedlungen mit farbigen Hausangestellten und Gärtnern, in Glaspaläste, die nur den Zweck haben, Reichtümer zu horten und zu mehren, hinter Stacheldrahtverhaue und Grenzstationen. "Was ihr den geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan", sagt Jesus. Er verbindet uns neben den Amerikanern auch mit den anderen Völkern. Lasst uns trauern auch um die palästinensischen Toten. Auch um die Toten auf dem Balkan, in Afrika, wo uns weniger Bilder erreichen. Sollte doch einmal von Krieg gesprochen werden, dann ist er längst in Gang. Zwischen Reichen und Armen nämlich.

Vorbeugendes Handeln richtet sich immer auf Sachverhalte, die noch nicht in den Bildern erscheinen. Auf verborgene Ursachen und Entwicklungen. Hier gilt es, den Opfern Ehre anzutun. Gegen die ungleiche Einkommensverteilung helfen Kreditbanken für die Armen. Gegen religiösen Fanatismus hilft der Dialog der Religionen. Das lasst uns anpacken. Vor Ort. Es gibt Moscheen an vielen Orten. Doch wo haben christliche Kirchengemeinden Kontakte dorthin?

Es wird immer Menschen geben, die Schreckliches anstellen, wenn man sie lässt. Es wird auch immer Menschen geben, die sich zum Mittun verleiten lassen, und sei es nur, um in die Zeitung zu kommen. Aber es muss keine biologischen und chemischen Waffen geben. Es muss keine rucksackgroßen Atomsprengköpfe geben, die man in einem Schließfach unterbringt. Dieses Zeug muss endlich vernichtet werden. Das könnten Nato und Rußland als erstes tun.

Es wird immer Ungerechtigkeiten geben und Gründe für politische Kämpfe. Doch es muss nicht in Krieg oder Terrorakte ausarten. Gewaltfreie Methoden der Konfliktlösung sind nötig. Darum lohnt es sich, Friedensforschungsinstitute zu unterstützen.

Dies alles sei angeregt, damit aus der Betroffenheit etwas Fruchtbares wird. Damit bis zum nächsten Erschrecken uns nicht der Alltag wieder frisst.

 

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