Gedanken zu Weihnachten 2001
Nicht dem Zufall überlassen,
wo die Wurzeln gründen.
"Seid fest verwurzelt und gegründet in Christus und fest
im Glauben, so wie ihr gelehrt worden seid" (Kol 2,7)
Pfarrer Winfried
Anslinger an Heiligabend 2001
In Christus fest verwurzelt und gegründet. So sollt ihr sein. Wie
eine Tanne im Wald.
Es ist nicht lange her, da war ich zu Gast bei einer griechischen Gemeinde.
Sie haben da eine Tanzgruppe, ein halbes dutzend Kinder, einen Cassettenrecorder,
eine bebrillte Mittvierzigerin hebt den Finger im Takt. Die Kinder drehen
sich, werfen die Arme hoch, hüpfen zu den Syrtakiklängen, es
erinnert an Urlaube auf Kreta und Ios, obwohl wir mitten in Deutschland
sind und die Kinder alle hier zur Welt kamen. Der Gemeindevorsteher erklärt
mir, er lebe schon seit 35 Jahren hier, er sei selbst als kleiner Junge
mit seinen Eltern an einem Oktoberabend im Jahr 1966 auf dem Kölner
Bahnhof angekommen. Er erinnere sich noch, wie schrecklich kalt und zugig
es dort gewesen sei.
Seine Töchter kennen Griechenland nur vom Urlaub. Wenn im Sommer
die Großeltern besucht werden in einem Dorf bei Saloniki, fragen
sie nach einer Woche schon, wann es wieder heimwärts geht, denn sie
sprechen nur gebrochen griechisch und das Land da unten mit seiner Hitze
und den Moskitos ist ihnen ganz fremd.
Und doch, wenn sie sich hier in ihren Rhythmen bewegen, zu den griechischen
Mandolinen im schleppenden Takt, sind sie sich auf einmal gar nicht mehr
so fremd. Sie haben Wurzeln, die gründen anderswo. Und das wird sichtbar.
Das wird jedoch nur dem bewusst, der's von außen beobachtet. Bei
uns ist das nicht anders, uns wird's ebenso wenig bewusst wie den griechischen
Mädchen. Nur manchmal, an Tagen wie heute. Wo die Schicht aus Alltag
und Vernunft abgetan ist.
Weihnachten, Fest der Familie. Wo sonst sind wir verwurzelt als in unseren
Familien und wo sonst sind die Familien so lebendig wie in Erinnerungen
der eigenen Kindheit. Die Weihnachtsbäckerei, das Vorlesen an Adventsabenden
beim Kerzenschein, Adventslieder, die Ton um Ton auf der Blockflöte
geblasen wurden, Pelznickel und Christkind. So machen wir's ja heute wieder
für die eigenen Kinder und Enkel, oder für Nichten und Neffen,
Traditionen werden fortgesetzt, nicht alles alte war ja schlecht.
Es ist keine Idylle gewesen. Damals. Die Kinderzimmer waren kalt, der
Herd in der Küche musste geschürt werden. Wer steht als erster
morgens auf? Wer trägt den Ascheneimer raus ? Das Viertel roch nach
Briketts. Viel Streit gab's auch in den Familien, Weihnachten war da gefürchtet.
Die Eltern gerieten sich in die Haare - soll der Weihnachtsbaum in der
Ecke stehen oder besser neben dem Kredenz? Die Tante reiste frühzeitig
ab und die Schwester wurde gescholten, weil sie was gesagt hatte, das
nicht für die Ohren der Tante bestimmt gewesen war. Die Mutter bekam
einen Nervenzusammenbruch, weil die Weihnachtsgans missriet und der Vater
gesagt hatte: "Nichtmal das bisschen Haushalt kriegt sie hin".
Dann aber auch Erinnerungen an weiße Weihnachten. Die Schlitten
rausgeholt und immer wieder den kleinen Hügel runter. Zu zweit, zu
dritt auf einem Gefährt, bis wir übereinanderfielen, uns im
Pulverschnee wälzten, nasswaren bis auf die Haut und nicht mehr konnten.
Es war kälter als heute. In den Städten verharschte der Schnee
und blieb so lange liegen, bis die obersten Schichten schwarz wurden vom
Ruß. Einmal wollten welche aus unserer Klasse dem Lehrer Engelskircher
eine Mauer aus solchen Eisbrocken vor der Haustür aufbauen, damit
er am nächsten Morgen nicht rauskam. Alle haben wir ihn ein wenig
gefürchtet, denn wenn er seine buschigen Augenbrauen senkte, sah
er aus wie Wotan Wahnwitz. Das passierte oft, denn die Unterscheidung
von Subjekt, Prädikat und Objekt war für Mädchen und Buben,
die Hochdeutsch als erste Fremdsprache lernten, nicht leicht. Jedenfalls,
er hat etwas bemerkt und kam - wie der Schneider Böck - aus dem Haus
gerannt. Keine Frage: sie haben nichts dafür gekonnt, dassder Schulmeister
auf dem glatten Bürgersteig ausrutschte und am Folgetag nicht in
der Schule erschien. Die ganze Klasse bekam Nachsitzen. Ein Aufsatz musste
geschrieben werden: "Wie ich mich in der Schule benehmen muss",
2 Seiten Mindestlänge.
Das vergisst man nicht.
Welche Erinnerungen unsere Kinder einmal an ihre Jugend behalten?
Unsere Wurzeln sind in solchen Geschichten gegründet, in Bildern
von Freude, Angst und Überraschung. Der erste Kieselstein, mit dem
man spielt, hat weltgeschichtliche Bedeutung. Der Hund, die Wiese, der
Sandkasten. Alles ist wichtig. Schau mal, was ich gebaut habe. Die Großen
gehen leicht darüber hinweg und verletzen Kinderseelen.
Warme Stuben und die Kleinen wollen nicht ins kalte Bett. Wenn der Nikolaus
kommt mit dem Knecht Ruprecht.
Ich wollte an Heiligabend immer noch mal raus. In fremde Fenster gucken.
Die Christbäume in den Zimmern. Die feierliche Stille genießen,
wenn es noch mal frisch geschneit hatte.
Wir haben unsere Wurzeln in Erinnerungen. Weil zu dieser Zeit die Welt
in Ordnung war. Und unser Lebensmut sich an solchen Paradiesinseln in
ferner Vergangenheit festmacht.
Zu Zeiten, wo es anders ist, zehren wir davon, meist ohne uns dessen
bewusst zu sein. Wir glauben einfach, daß die Welt zum Guten geschaffen
ist. Das könnte man nie beweisen. Aber man hat ein bisschen was davon
erlebt. Das zählt mehr.
Es ist eigentlich unsere Pflicht, sowas weiterzugeben. Wer pflanzt, muss
auch für guten Boden sorgen, damit die Wurzeln gut einwachsen können
und immer Nahrung zur Verfügung steht. Sonst vertrocknet das Gewächs.
Gewiss - jeder hat irgendwo seine Wurzeln. Aber es ist nicht gleichgültig,
wo sie sich gründen. Wer viel Streit in der Familie erlebt, hält
diesen Zustand für normal und wird es später ebenso machen.
Wer zuhause Leistungsdruck statt Liebe erfährt, wird später
dazu neigen, seine Untergebenen zu peinigen. Wer seine Freizeit nur damit
verbringt, Horrorfilme anzusehen und Ballerspiele zu machen, beginnt irgendwann,
an das Böse zu glauben.
Darum soll man nicht dem Zufall überlassen, wo die Wurzeln gründen.
Die Welt besteht nicht nur aus Unheil und das Unheil besiegt man normalerweise
nicht mit Gewalt.
Auch die Christbäume sind gut verwurzelt gewesen. Die am schlechten
Standort windschief wachsen, lässt man im Wald, aus denen wird nie
was Gescheites.
Ihr seid in Christus verwurzelt und gegründet, sagt der Kolosserbrief.
Ein guter Humus steht euch zur Verfügung. Also: pflanzt. Jetzt ist
Gelegenheit. Später vielleicht nicht. Irgendwann ist es zu spät.
So lasst uns diesen Tag zu einem unvergessbaren machen und tüchtig
dabei sein. Nicht perfekt sein wollen. Pannen bringen Abwechslung. Tüchtig
heißt nicht perfekt, sondern zielgerichtet. Was erwarten wir tatsächlich
? Ist es der äußere Klimbim, der uns so viel gekostet hat -
oder ist es nicht vielmehr etwas Inneres ? Manche nennen's Seelenfrieden
... dieses zur Ruhe kommen. Die Freude, wenn alles im Einklang ist und
ein Licht im Herzen aufleuchtet. Dazu muss sich niemand verkrampfen. Jeder
darf loslassen. Denn jetzt ist die andere Zeit im Jahr. Ihr dürft
mal raus aus eurer Haut. Alles was sonst Stressmacht, darf unwichtig sein.
Wenn Gott auf die Welt kommt, was zählt dann noch alles andere?
Ernst Bloch schreibt am Ende seines Hauptwerks "Prinzip Hoffnung":"Der
Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes
steht noch vor Erschaffung der Welt als einer rechten".
Wenn Gott auf die Welt kommt, was zählt dann noch alles andere?
Wenn er kommt, dann gibt es viel zu tun für ihn. Das Eigentliche
steht noch aus. Ist das nicht etwa tröstlich?
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