Zeitgeistige Gedanken

Zeit für mich - Zeit für andere

von Pfarrer Hans-Jürgen Bechert

 

Ich habe keine Zeit - das gilt nicht. Ich habe ja Zeit. Aber wofür?

Es gibt zwei Arten zwanghaften Lebensstils: Leute, die nie Zeit für sich selbst haben, und solche, die nie Zeit für andere haben.

Ich darf mir keine Zeit gönnen, ich bin immer im Einsatz, immer gefordert, unersetzbar. Die Leute mit der zwanghaften Lust, sich zerreiben zu lassen. Oder: Ich habe es selbst schon so schwer, dassandere mit ihren Ansprüchen meinen Weg nicht kreuzen dürfen. Die ewig angestrengten, immer überforderten, nicht belastbaren Zeitgenossen, mit der Lust zur Verweigerung.

Zwängen besonderer Art erliegen die, die vor lauter Zeit gar keine Zeit haben, weder für sich noch für andere. Sie wissen mit ihrer Zeit nichts anzufangen, geraten unter die Räder der Zeit, leben nicht, sondern werden gelebt. Sie widerstehen dem Zeitgeist nicht, haben kein eigenes Profil, sie leben und sterben, man weiß nicht: Warum?

Ein ausgewogenes Leben bedarf der richtigen Mischung im Gebrauch der Zeit: Jeder muss herausfinden, wo seine Stärken und Schwächen sind. Ein guter Solist wird viel Zeit für sich benötigen, um dann anderen in wenigen Minuten etwas zu geben, was wirklich bereichert. Ein Arzt, der viel Zeit bei seinen Patienten verbringt, wird aufpassen müssen, dass er Mensch bleibt, bevor er Arzt ist.

Zeit - wofür? Einfach zum Zeitvertreib, damit sie verrinnt? Zur verbissenen Pflege eigenen Lebensstils? Zeit für Überraschungen? Zeit zum Zeit haben?

Wir haben Zeit, für uns, für andere. Wieviel Zeit haben wir?

Das Sabbatgebot ist ein charakteristisches Merkmal des Judentums. Wir Christen haben diese Tradition übernommen und ihr den Sonntag gewidmet. Sabbat kommt vom hebrœischen "schabbat" und bedeutet "ruhen". Er ist der letzte Wochentag im jüdischen Kalender und wird als Tag der Ruhe und des Offenseins für Gott begangen. Religiös wird seine Bedeutung mit der Erinnerung an den Ruhetag Gottes nach Vollendung der Welt begründet. Gleichzeitig erhält er soziale Rechtfertigung als Tag der Arbeitsruhe für Mensch und Tier. Diese Arbeitsruhe umfasst nicht nur körperliche, sondern auch geistige Arbeit. Sie hat nicht nur eine persönliche Komponente für den je Einzelnen, sondern auch einen sozialethischen Aspekt, nœmlich die Pflicht des Arbeitgebers, die Arbeitsruhe seinen Arbeitnehmern zu gewähren und zu ermöglichen. Damit gewinnt das Sabbat- oder Sonntagsgebot auch in heutiger Zeit an Brisanz, etwa in der Frage der Sonntagsarbeit und der Schichtarbeit am Wochenende, die moderne Betriebe fordern oder schon praktizieren.

Der Sabbat sollte dagegen ganz der Ruhe, dem Frieden und der Freude gewidmet sein. Er beginnt am Freitagabend, dem sogenannten Rüsttag, mit dem Anzünden der Kerzen. Nach dem Synagogenbesuch am Sabbat wird zu Hause Mahl gehalten. Die Bibel und die rabbinische Tradition nennen verschiedene Gebote, den Sabbat zu begehen, und Verbote, bestimmte Arbeiten zu verrichten. Diese verstellten in ihrer Überfrachtung und strengen Reglementierung zeitweise den eigentlichen Sinn des Sabbats, so dass Jesus betont: "Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat" (Markus 2,27). Dabei ist das Anliegen des Sabbatgebots, dem Menschen Freiraum zu schaffen, ihm Luft zum Atmen zu geben, ihn zur Besinnung auf sich und sein Leben einzuladen und ihm die Begegnung mit Familie und Freunden zu ermöglichen. Benötigen nicht auch wir heute feste Zeiten der Ruhe und Begegnung?

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